Aufrecht sitzt sie da in ihrem Sessel, ihre Hände sind auf den Stock gestützt. Sie legt viel Wert auf ein besonders gepflegtes Äußeres. Diese Haltung hilft ihr, die schrecklichen Erinnerungen an ihre Vergangenheit zu ertragen. Auch Humor hilft. Ihrer kommt zwischendurch immer wieder zum Vorschein. Trocken und mit einem Augenzwinkern. Ja, sie will erzählen von ihrem Leben, aber über bestimmte Dinge kann und will sie nicht sprechen.
Sie kommt am 19. September 1914 in Berlin als Martha Kohane zur Welt. Die Mutter ist Tschechin aus Mährisch-Ostrau und der Vater Pole. Er kommt aus Krakau, „da wo der Papst her ist,“ sie lacht, „aber ich glaube nicht, dass die miteinander verkehrt haben.“
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Sie erinnert sich, wie sie im Schöneberger Stadtpark mit ihrer Schwester und ihrem Bruder gerodelt ist. „Das war immer sehr schön.“ Ihre Schwester lebt heute in Sydney und ihr Bruder in Buenos Aires, dort, wo auch sie bis 2004 gewohnt hat – mitten im Zentrum, gleich um die Ecke vom Deutschen Hospital. Ihr kleiner Bruder ist mittlerweile 85 Jahre alt.
Ihre Eltern kommen „auf die fürchterlichste Weise“ ums Leben
Als Martha 22 Jahre alt ist, lernt sie in einem jüdischen Landgut Alexander Ehrenfeld kennen. Er ist sogenannter naturalisierter Argentinier. „Wir haben uns verliebt und dann haben wir geheiratet, und darum konnte ich auch mit ihm auswandern.“ Das war zwei Jahre später, 1938. Zunächst fahren sie zusammen nach Paris und bleiben dort ein paar Wochen. Von Cherbourg aus nehmen sie die Cap Arcona nach Buenos Aires. Leider habe sie niemanden von ihrer Familie mitnehmen können, sagt sie. Ihre Eltern kommen „auf die fürchterlichste Weise“ ums Leben. Mehr kann und will sie dazu nicht sagen. Es belastet sie zu sehr.
Aber was zählt sei einzig, dass er aus Deutschland herausgekommen sei
Sie erzählt, dass auch ihr kleiner Bruder verschleppt wurde und dass er sich hat retten können. Eine gute Geschichte. „Er kam dann wieder nach Berlin, und dann habe ich ihm viel helfen können.“ Freunde vom Jüdischen Hilfsverein schickten ihm eine llamada und die große Schwester schickt das Geld für die Reise. Wann genau das war, das weiß sie heute nicht mehr. So etwa 1942. Aber was zählt, meint sie, sei einzig, dass er aus Deutschland herausgekommen sei.
„Meinen Vater habe ich seitdem nicht wieder gesehen.“
Was sie selbst noch vor ihrer Auswanderung in Deutschland erlebt hat, darüber spricht sie nicht gerne. „Es war schrecklich,“ sagt sie und erzählt, wie eines Tages die Gestapo morgens um vier Uhr an der Wohnungstür der Familie Kohane klingelt. Der Vater macht die Tür auf „und da steht ein Polizist, der sagt, „Herr Kohane, Sie und ihr Sohn kommen jetzt mit zur Polizei.“ Bueno, die mussten mit. Da gab es kein Verstecken.“ Sie stellt sich vor, wie es wohl gewesen wäre, wenn sie zehn Minuten eher aus dem Haus gegangen wären. Dann „hätten sie sich vielleicht noch retten können.“ Sie werden zum Bahnhof gebracht. „Meinen Vater habe ich seitdem nicht wieder gesehen.“ Sie erinnert sich genau, es war der 29. Oktober 1938, der Geburtstag ihrer Schwester. Martha Ehrenfeld dreht sich um und zeigt auf die Fotos, die an der Wand ihres Zimmers hängen. „Hier habe ich das Bild meines Vaters. Und meine Mutter. Hier sieht sie recht gut aus.“ Ein paar Tage später, so die 91jährige Tochter, habe die Mutter ein Passbild machen müssen. „Da sieht sie so elend aus, so demasiado elend.“ Das Bild hat sie nicht an der Wand hängen, denn so wolle sie ihre Mutter nicht sehen, sagt sie. Ihr Vater, sie erzählt weiter, habe nie über Auswanderung sprechen wollen. Er habe geglaubt, dass sich die Nazis nicht lange an der Macht halten würden, dass in einem Jahr keiner mehr von den Nazis sprechen würde. „Tja, aber dann hat man noch eine ganze Menge davon gesprochen.“
Auch sie hat die Pogrome vom November 1938 noch erlebt. „Die habe ich mir nicht entgehen lassen“ sagt sie mit ihrem ganz eigenen trockenen Humor, aber auch von diesen Erlebnissen möchte sie lieber nicht erzählen.
Endlich ist das Leben wieder lebenswert
Viel wichtiger ist ihr, dass das Leben dann in Buenos Aires weiterging. Hier hat sie sofort wieder angefangen als Schneiderin zu arbeiten. Für einen Rocksaum rechnet sie damals einen Peso. Lydia Kindermann, eine Künstlerin, ist ihre erste Kundin. Eines ihrer Kleider muss sie kürzen, „aber ich hatte kein Mannequin und keine Puppe, aber mein Mann war so groß wie die, sag ich, „Du musst das anziehen, ob du willst oder nicht.“ Sie lacht. „Da habe ich ihm den Busen ausgestopft. Es hat funktioniert.“ Endlich ist das Leben wieder lebenswert. Sie bekommt einen Sohn, und es gefällt ihr sehr in Argentinien. Fremd fühlt sie sich nie. Vielleicht hat es geholfen, meint sie, dass ihr Mann schon lange naturalisierter Argentinier war. Gleich zu Anfang wird sie Sozius des Jüdischen Hilfsvereins. Regelmäßig treffen sie sich an den Wochenenden mit den anderen Mitgliedern auf der sogenannten Judenwiese. „Ja, das war sehr schön. Haben uns die Mücken gestochen“, sie lacht wieder, „war sehr schön! Wir haben es genossen.“ Ihr Leben lang ist sie der AFI treu geblieben. Da war es selbstverständlich, dass sie hierher ging, nachdem sie schon lange Witwe war und ihre Haushälterin sie verlassen hat, weil diese sich intensiver um ihren kranken Mann kümmern wollte. Zuvor war sie in San Miguel schon im Urlaub oder in Rehabilitation nach einer Hüftoperation gewesen.
Und Deutschland? Sie war da. Zweimal in Berlin. Ein Neffe von ihr lebt jetzt dort. Es hat ihr gefallen, aber sie ist auch gerne wieder zurückgekommen. Heimat? „Da kann ich gar nicht viel bieten an Heimat“ sagt sie. „Nein. Heimat?“ fragt sie und guckt streng, „das ist hier meine Heimat. Hier bin ich zu Hause, hier in meinem Zimmer.“ Sie schaut sich die Fotos an der Wand wieder an, sehr konzentriert und sagt, „Mein Mann lebt schon lange nicht mehr. Er war sehr viel älter als ich. Mir haben immer die älteren Herren am besten gefallen. Er war 18 Jahre älter!“ Und dann fängt sie an zu singen: „Die besseren älteren Herr hat jedes Mädchen gern, die besseren älteren Herrn sind richtig!“ Kennen Sie das Lied?“