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REPORTAGE

Chicas del lunes

Las chicas del lunes

Buenos Aires am frühen Montagmorgen. Es ist ungewöhnlich kalt für einen Frühlingstag im November und es ist laut in dieser Stadt. Wie jeden Tag, kämpft sich ein kleiner weißer Bus durch die verstopften Straßen. Am Steuer sitzt Mariano. Er ist früh aufgestanden, denn er kommt den weiten Weg aus San Miguel, einer kleinen grünen Stadt nördlich der Hauptstadt. Gegen neun Uhr muss er wieder zurück sein und er rechnet eine Stunde Fahrzeit. Jeden Tag der Woche macht der kleine drahtige Argentinier eine andere Tour durch die Stadt, egal wie das Wetter ist und egal wie verstopft die Straßen sind.

Dieses Stück Deutschland heißt Hogar Adolfo Hirsch

In San Miguel lebt ein Stück Deutschland. Dieses Stück Deutschland besteht aus Schneckennudeln, einem Gebäck aus der Pfalz. Es besteht aus einem neunarmigen Hanukkaleuchter, der einmal in einem Hamburger Wohnzimmer stand. Es besteht aus einem Deutsch, das etwas veraltet klingt und aus Erinnerungen an die Großeltern in der Lutherstadt Wittenberg oder an eine Schule in Dinslaken, wo nicht alle Lehrerinnen Antisemitinnen waren. In diesem Stück Deutschland werden Topflappen gehäkelt, so wie es schon die Großmutter in München gemacht hat. Hier wird Marmelade nach gutem altem Rezept eingekocht. Pektin wird verwendet, damit sich kein Schimmel bildet. Die Bücher, die hier gelesen werden sind oft ganz alt und haben vergilbte Seiten. Dieses Stück Deutschland heißt Hogar Adolfo Hirsch und ist das Altenheim der Deutsch sprechenden Juden Argentiniens.

© Tim Hoppe / chicas del lunes - Die Montagsmädchen von San Miguel

„Wir werden las chicas del lunes genannt“

Montagmorgen: Panamericana, Ecke Ugarte. Vesna Frank guckt auf ihre Armbanduhr. Ungeduldig ist sie nicht. Es ist acht Uhr, da kommt der weiße Bus um die Ecke. Mariano ist pünktlich, wie immer. „Buenos días, Señora Frank!“, ruft er ihr aus dem geöffneten Fenster entgegen. Sie freut sich ihn zu sehen. Er steigt aus, um ihr in den Wagen zu helfen. Im Innern wird sie von drei Freundinnen strahlend begrüßt. „Buenos días, Vesna. Guten Morgen! Wie geht es dir?“ Die Damen, die Mariano nach San Miguel bringen wird, sprechen Deutsch miteinander. Meistens. Er versteht kein Deutsch, aber das macht ihm nichts. Er hat Verständnis, schließlich sind sie aus Deutschland. Nun ja, Vesna Frank ist Kroatin, aber das ist auch weit weg. „Bueno, wir werden las chicas del lunes genannt“, sagt Hex Munk, „Montagsmädchen.“ Hex heißt sie, weil sie einst an einer Heilbronner Grundschule die Hexe in einer Hänsel und Gretel-Aufführung spielte, damals, bevor sie 1937 aus Deutschland fliehen musste. Fast 70 Jahre später ist sie auf dem Papier immer noch Deutsche, im Herzen Argentinierin und eine der vielen ehrenamtlichen Helferinnen im Altenheim. „Sonntags heißen sie Damen. Die sind was Besseres,“ sie lacht „aber dafür sind wir viel lustiger.“ Ihre Augen leuchten und die anderen stimmen ihr zu: „Wir behaupten immer, wir sind die netteste Gruppe.“


Sprecherin: Corinna Below
Spät bin ich zum Journalismus gekommen und weiß deswegen umso mehr zu schätzen, was für ein fantastischer Beruf das ist. Seit 2003 arbeite ich als Freie Mitarbeiterin beim NDR Schleswig-Holstein. Mehr über mich zu lesen gibt es unter "Autorin".

In einem irrsinnigen Tempo rast Mariano über die Panamericana. Die Autobahn frisst sich ihren Weg hinaus in die dünner besiedelten Gegenden der Provinz. Vereinzelt sind Gauchos zu sehen, die ihre Pferde auf dem spärlichen Grünstreifen am Rande der lauten Straße grasen lassen. Und immer wieder Slums. „Argentinien hat sich nicht zum Guten entwickelt,“ meint Vesna Frank. Seit dem wirtschaftlichen Zusammenbruch des Landes in der 90er Jahren wächst die Armut und illegale Siedlungen schießen wie Pilze aus dem Boden.

Baruch Habáh - Willkommen

Angekommen im Hogar Adolfo Hirsch gehen die Montagsmädchen über einen langen Weg auf den Haupteingang zu. Den Weg säumen Büsche, die jetzt im Frühling in voller Blüte stehen. Der Kiesel knirscht unter ihren Schuhen. In hebräischer Schrift steht Willkommen über der Tür geschrieben: Baruch Habáh.

© Tim Hoppe/ Im Garten des Hogar Adolfo Hirsch

Gegründet wurde das Heim durch die Asocioción Filantrópica Israelita, dem Jüdischen Hilfsverein, im Oktober des Jahres 1940 für die älteren Deutsch sprechenden jüdischen Immigranten aus Europa. Im Laufe der Jahre kamen weitere Gebäude dazu, die Anlage wuchs. Immer war das Hogar Adolfo Hirsch eine angesehene Adresse, bekannt über die Landesgrenzen hinaus.

Viele leisten ehrenamtliche Arbeit

Auf dem großzügig angelegten Gelände mit penibel gepflegtem Park und Swimmingpool leben heute ungefähr 170 alte Menschen. Sie alle haben ihre Wurzeln in Deutschland oder Österreich. Wurzeln, die in den 30er Jahren gekappt wurden. Sie flohen als junge Erwachsene vor den Nazis. Argentinien bot für viele die einzige Chance zu entkommen. Meist verließen sie ihre Heimat über den Hamburger Hafen. Nach wochenlanger Fahrt im Hafen von Buenos Aires angekommen warteten damals die Mitglieder des Jüdischen Hilfsvereins auf die Immigranten, um sie zu begrüßen. Sie halfen ihnen bei den Einreiseformalitäten und sorgten dafür, dass die, die keine Familie in Argentinien hatten, vorläufig eine Bleibe und Arbeit fanden. Viele Deutsch sprechenden Juden sind sofort nach ihrer Ankunft Mitglied des Vereins geworden und fühlen sich bis heute der AFI eng verbunden. Viele leisten ehrenamtliche Arbeit. So wie die chicas del lunes.

© Tim Hoppe / Hanna Grünwald auf dem Weg zu ihrer nächsten Klientin

Dieses Heim hat mit jeder Einzelnen sehr viel zu tun

Hex Munk, Vesna Frank und die anderen schlendern durch die Empfangshalle. Hier sitzt Ilse Grünewald in ihrem Rollstuhl und wartet, dass der Speisesaal geöffnet wird. Gleich gibt es Frühstück. Auch die Freundinnen Anneliese Feldmann und Hilde Neustadt warten lieber hier als in ihren Zimmern. „Weil hier was los ist,“ sagt Hilde Neustadt und freut sich über den Besuch aus der Stadt. Die chicas del lunes bleiben stehen und halten hier und da schon mal ein kleines Schwätzchen. Dann gehen die Montagsmädchen durch die hell beleuchteten Gänge bis zu dem Zimmer für die freiwilligen Helferinnen. Hier tauschen sie ihre Jacken gegen rosa Kittel und schwirren aus. Manche von ihnen kochen mit den Bewohnerinnen Marmelade ein, eine führt den Kiosk, andere topfen mit den alten Menschen Blumen um.

© Tim Hoppe/ Hex Munk im kiosko

Viele der voluntarias kommen schon seit einer halben Ewigkeit nach San Miguel

Sie gehen mit einzelnen im Park spazieren und reden über die Vergangenheit oder über das, was heute ansteht. Eine der Ehrenamtlichen leitet eine Theatergruppe. Alle haben eine Liste von Namen in der Kitteltasche. „Das sind die Leute, die ansonsten gar keinen oder nur wenig Besuch bekommen“, sagt Hex Munk. Sie und die anderen – alle durch einen rosafarbenen Kittel als freiwillige Helferinnen zu erkennen - machen sich an die Arbeit. Bis zum Abend werden sie sich kaum ausruhen.Viele der voluntarias kommen schon seit einer halben Ewigkeit nach San Miguel. Vesna Frank ist erst seit 10 Jahren dabei. Ehrensache. Dieses Heim hat mit jeder Einzelnen sehr viel zu tun, sagen sie. Hier kreuzen sich ihre Lebenswege. Hier verbindet sie die gemeinsame Sprache und Kultur. Hier begegnet man einem Stück Deutschland – das es bald so nicht mehr geben wird.

© Tim Hoppe/ Die chicas del lunes machen Pause im Speisesaal

Das Hogar Adolfo Hirsch ist so etwas wie eine Heimat

„Es ist nicht mehr wie früher“, sagt Hex Munk und die anderen stimmen ihr zu. Früher seien die Menschen hierher gezogen, um einen schönen Lebensabend zu verbringen. Jetzt seien sie, die voluntarias, weit über 60 und leben immer noch in der Stadt. „Wir sind heute irgendwie anders als die Alten früher“, sagt die 88jährige mit diesem ihr eigenen Lachen in den Augen. Die anderen erzählen, dass das Hogar Adolfo Hirsch früher wenig von einem Heim gehabt habe. „Heute sind viele Heimbewohner schlecht dran. Die meisten sind stark hilfsbedürftig“, sagt Vesna Frank. Doch damit kein falscher Eindruck entsteht fügt sie noch hinzu, „Es ist aber immer noch das beste Heim in ganz Südamerika!“ Und das Einzige, das nach deutschen Standards geführt wird, sagen sie. Der großzügige Park, der Pool, die Bibliothek, davon schwärmen alle gleichermaßen. Und die gute Betreuung! heißt es immer wieder. Der liebevolle Umgang im Haus sei einzigartig. Es gibt eine Synagoge, es finden Lesungen und Konzerte statt und manchmal bringt Mariano eine Gruppe Bewohnerinnen und Bewohner mit seinem weißen Bus in die Hauptstadt. „Das kommt aber nicht mehr so oft vor“, sagt Vesna Frank. Sie guckt wehmütig. „Die Leute sind nicht gut dran. Ständig stirbt jemand.“ Sorge macht sich breit, dass es dieses Heim vielleicht irgendwann nicht mehr geben wird. Alle hängen an diesem Ort. Das Hogar Adolfo Hirsch ist so etwas wie eine Heimat. Ein Stück Deutschland eben.

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