Dezember 7, 2018
Schikaniert, ausgegrenzt, vertrieben - Stolpersteine gegen das Vergessen
Willich am Niederrhein/ Ortsteil Neersen, Hauptstraße 59 am 6. Dezember
Hier ist sie geboren. Lore Brieger, geborene Salmons. Gestorben ist sie hier nicht. Auch nicht sonstwo in Deutschland. Lore Brieger wurde aus ihrer Heimat vertrieben. Das Leben hier war unerträglich geworden. Schikaniert und ausgegrenzt, weil sie Jüdin war. In letzter Minute floh sie zusammen mit Mutter und Schwester im Dezember 1941 aus Nazideutschland.
Es regnet leicht, kalt ist es nicht. 12 Grad. Ein Stolperstein für Lore Salmons, Hauptstraße 59, genau da, wo sie geboren wurde und bis zu ihrem 13 Lebensjahr gelebt hat, zusammen mit ihrem Vater Otto, der Stiefmutter Charlotte und der kleinen Schwester Hanna.
Das Haus der Familie Salmons bis 1937
"Ich mache das vor allem für die jungen Leute"
Gunter Demnig ist gekommen, um Lore Salmons und die anderen wieder sichtbar zu machen. Vor einer Woche hat er in Frankfurt seinen 70.000sten Stolperstein verlegt. In Willich werden es gleich 79 sein.
Gunter Demnig setzt den Stoplerstein für Lore Salmons
"Ich mache das vor allem für die jungen Leute“, sagt er. Es sei wichtig, dass sie ein Gefühl für Menschen wie Lore Salmons bekommen, denn nur um die gehe es hier. "Sie will ich sichtbar machen", sagt der Künstler. 1992 hat er zum ersten Mal Stolpersteine verlegt.
Das Interesse bei Schülerinnen und Schülern sei groß, erzählt er „das motiviert mich immer wieder.“ Vor einer Woche hat er in Frankfurt seinen 70.000sten Stolperstein verlegt. In Willich sind es jetzt 79.
Wenn er die Daten der Getöteten oder Vertriebenen ins Metall prägt ...
Wenn er die Namen und Daten der Getöteten oder Vertriebenen ins Metall prägt, dann kontrolliert er genau. Er dürfe sich keine Fehler erlauben. Mit den Menschen lange auseinandersetzen könne er sich aber nicht, erzählt er. Das haben stattdessen die Schülerinnen der 9. Klasse des St.-Bernhard-Gymnasiums gemacht. Sie verlesen kurze biografische Texte.
Ihm ist nicht egal, dass die Salmons vertrieben wurden
Bernd-Dieter Röhrscheid vom HEIMAT- UND GESCHICHTSFREUNDE WILLICH E.V. beschäftigt Lore Briegers Schicksal sehr. Ihr Schicksal und das ihrer gesamten Familie. Denn es ist ihm nicht egal, dass Salmons vertrieben wurden. Es treibt ihn um. Sein Großvater habe ihm beigebracht, dass das Wichtigste ist, sich für die Ausgegrenzten und Schwachen einzusetzen.
Bernd-Dieter Röhrscheid ist pensionierter Lehrer. Seit 1988 hat er, gemeinsam mit vielen Generationen von Schülerinnen und Schülern, die Geschichte der Juden in Willich erforscht. In Zusammenarbeit mit dem Stadtarchivar Udo Holzenthal ist ein Buch dabei entstanden: Die Geschichte der Juden in Willich, erschienen 2016.
Er hatte mich ausfindig gemacht
Ende September bekam ich einen Anruf: „Sind Sie Corinna Below und haben Sie das Buch Ein Stück Deutschland geschrieben?“ Bernd-Dieter Röhrscheid hatte mich ausfindig gemacht. Ihm habe ein Bekannter von der Jüdischen Gemeinde Mönchengladbach von meinem Buch erzählt, sagt er. Dieser habe ihn darauf hingewiesen, dass ein Text über Lore Brieger darin sei. "Das hat mich motivert, mich darum zu kümmern, dass sie und ihre gesamte Familie endlich Stolpersteine in Neersen bekommt." Und das hat mich wiederum ugehauen und mich motiviert, meine Texte endlich online zu stellen.
Heute habe ich die Ehre, in Willich den Schülerinnen über mein Projekt www.einstueckdeutschland.com ein Interview zu geben. Sie wollen wissen, wieso ich ausgerechnet Lore Brieger ausgewählt habe. Ich erzähle, dass das eigentlich Zufall gewesen sei. Sie sei damals ehremamtliche Helferin im Altenheim in Argentinien gewesen, in dem ich viele andere Menschen interviewt habe.
Wenige Meter neben den Stolpersteinen für Lore Brieger und ihre Familie, setzt Gunter Deming einen weiteren Stein: für Ernst Levy. Ob Lore Brieger ihn gekannt hat, weiß hier niemand. Es ist aber wahrscheinlich. Er war schließlich ihr Nachbar. Sicher ist, er wurde am 12. Februar 1941 in die Heilanstalt Grafenberg eingewiesen, drei Tage später nach Hadamar verlegt und am gleichenTag bei der "Aktion T4“ ermordet.
Lore Brieger ist inzwischen gestorben. Auch haben die Initiatoren der heutigen Stolpersteinverlegung es nicht geschafft, die zwei Kinder in Argentinien ausfindig zu machen. Noch bis 2003 hatte Heinz Zimmermann Kontakt zu ihr. „Sie war vier, fünf mal zu Besuch“, erzählt er. „Auch mit ihren Kindern und Enkelkindern. Sie war eine lustige Frau. Wir waren richtig gut befreundet, haben oft telefoniert.“ 2003 sei der Kontakt dann leider abgebrochen.
Eine Nachbarin kommt vorbei und fragt interessiert nach. Sie habe nicht gewusst, dass hier früher mal Juden gewohnt haben. "Familie Salmons?“ sagt sie, "Von denen habe ich noch nie gehört.“ In Willich/ Neersen wüssten viele Menschen nach wie vor nichts von ihrer Existenz, erzählt Bernd-Dieter Röhrscheid. Jahrzehntelang sei die Vertreibung und Vernichtung der Willicher Juden totgeschwiegen worden.
Jetzt werden sie in Zukunft in der Hauptstraße über die Steine von Lore, ihren Eltern und ihrer Schwester stolpern.
Jetzt sind sie wieder sichtbar: Lore Brieger und ihre Familie, eine der wenigen jüdischen Familien in Neersen, die hier einmal gelebt hat.
Rudolf - Dezember 14, 2018 at 5:29 pm -
Sehr geehrte Frau Below,
vielen Dank für dieses schöne Projekt.
Ich habe mir erlaubt, Ihre Veröffentlichung in einem „anderen Kanal“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Willich#Lore_Salmons) zu verlinken.
Es ist sehr sehr wichtig, dass diese unselige Vergangenheit weiterhin im Fokus bleibt, denn die Zeugen werden weniger, die Leugner aber immer mehr.
Beste Grüße vom Niederrhein
Bernd-Dieter Röhrscheid - Dezember 30, 2018 at 7:57 pm -
Liebe Frau Below,
die Geschichte von Lore Brieger und Ihrer Familie ist beeindruckend von Ihnen beschrieben und dokumentiert worden. Sie ist eine wertvoller Beitrag „Gegen das Vergessen“ undatiert bei den Schülerinnen viel Zustimmung gefunden.
Herzlichen Dank und arbeiten Sie weiterhin für diese „Sache!
Bernd-Dieter Röhrscheid
Bernd-Dieter Röhrscheid - April 29, 2019 at 10:12 am -
Liebe Frau Below,
inzwischen haben wir auch das Todesdatum von Lore Brieger ausfindig machen können.
Sie ist 89jährig am 23.04.2017 gestorben und auf dem Friedhof „Cementerio Israelita de la Ablade in Buenos Aires beerdigt worden.
Weitere Informationen über ihre Kinder konnten wir immer noch nicht ausfindig machen.
Viele Grüße aus Willich
Bernd-Dieter Röhrscheid
Pedro Brieger - Februar 23, 2022 at 7:12 pm -
Liebe Frau Below
Ich bin Pedro (Peter) Brieger der Sohn von Lore Brieger.
Corinna Below - Februar 25, 2022 at 10:09 am -
Lieber Pedro Brieger,
schön, dass Sie sich melden. Das freut mich sehr. Bitte schreiben Sie mir per Mail an c.below@einstueckdeutschland.com.
Ich habe viele Fragen an Sie!
Liebe Grüße
Corinna Below
Corinna Below - Dezember 1, 2022 at 9:50 am -
Lieber Pedro, bitte entschudligen Sie die extre verzögerte Anwtort, ich war mit so vielem beschäftigt, dass ich hier gar nicht nachgeguckt haben.
Schön, dass Sie (oder Du???) sich gemeldet haben. Das freut mich sehr.
Am besten kommunizieren wir un Zukunft über Mail. Meine Adresse lautet c.below@einstueckdeutschland.com
Herzliche Grüße
Corinna