Januar 6, 2020
Detlef Aberle
AUFBAU IM UNTERGANG
3. KAPITEL
„Aufbau im Untergang“ habe ich diesen Schulaufsatz genannt und nun merke ich ein wenig zu spät, dass ich nicht befähigt bin, dem Thema Ausdruck zu verleihen.
Zum ersten: Der Titel ist gar nicht von mir, sondern entspricht einem Buch von Dr. Ernst Simon, Absolvent der Universität Heidelberg. Kurz nach dem ersten Weltkrieg fand Simon zur zionistischen Jugendbewegung und arbeitete seitdem unermüdlich an der Gründung des Staates Israel. Er wanderte nach Palästina aus und wurde schließlich einer der höchsten Leiter des Erziehungswesens im neugegründeten Staat. Sein Buch behandelt das Thema der Assimilation eines grossen Teils des deutschen Judentums und beschreibt, wie während der Zeit des Untergangs zahlreiche Bildungsgänge es den Verfolgten ermöglichten, ihr Volk, sei es auf nationaler oder religiöser Ebene, wiederzufinden.
Das „Aufbau-im-Untergang-Gefühl“
Wir haben diese Tatsache im vorigen Kapitel kurz erwähnt, doch ist sie keineswegs das Thema dieser Erzählung. Hier geht es um etwas anderes: Wir möchten dem Leser ein Gefühl nahebringen, jenes aus stetiger Spannung, Angst, Stolz, Dunkel, Licht, Bestürzung, Begeisterung bestehendes „Aufbau-im-Untergang-Gefühl“, das uns während jener Jahre nie verlassen hat.
Vielleicht fällt es mir am leichtesten dieses Gefühl zu erklären, wenn ich mein Leben in der Talmud Tora Schule beschreibe.
Die Einweihung unseres Schulgebäudes fand 1911 statt und um die Problematik des deutschen Judentums jener Zeit und insbesondere meiner Schule, aufzuzeigen, scheint es mir am besten, die Einweihungsansprache des damaligen Direktors, Dr. Joseph Goldschmidt, wiederzugeben, obwohl diese Ansprache in vielen Geschichtsdokumenten nachgelesen werden kann.
„Drei Idealen streben wir zu. Das erste zeigt euch unser jüdischer Glaube. Die erhabenen Vorschriften der schriftlichen und mündlichen Lehre erwecken in unserem Herzen das Zartgefühl für Menschen und Tiere, befestigen die Ergebenheit in die Schickungen des Allmächtigen und erwärmen für alles Warme und Edle. Ein zweites Ideal besteht darin, dass ihr aus der Beschäftigung mit der deutschen Literatur und Geschichte die deutsche Eigenart schätzen, lieben und hochachten lernt. Treue gegen sich selbst und anderen, Festigkeit und Kraft, Ernst und Mut im Handeln zeichnen den deutschen Mann aus. Und bewundern wir unser Heimatland ob der Schönheit seiner Berge und Täler, seiner sanften Ströme und lieblichen Seen, so sind wir stolz, Bürger eines Volksstammes zu sein, der durch jene Tugenden emporragt vor allen Nationen des Erdballs. Insbesondere aber hängt unser Herz und das sei euer drittes Ideal, an unserem lieben, schönen Hamburg. Noch ist das Gefühl für die Vaterstadt bei euch eine unbewusste Anhänglichkeit, wie das Kind seine Eltern liebt, ohne zu erkennen, wie viel Gutes es ihnen verdankt. Lasst euch aber sagen, die Hamburger haben ihre schätzenswerte Sonderart, die euch später, wenn ihr mit schärferem Auge zuzuschauen versteht, zum Bewusstsein kommen wird. Fleißig sind sie und unverdrossen, nicht träumerisch, sondern wachsam, wägend und wagend, Menschen des Rates und der Tat. Werdet tüchtige Juden, tüchtige Deutsche, tüchtige Hamburger“.
Nein, wir waren nicht stolz darauf, Bürger eines Volksstammes zu sein, der emporragte vor allen Nationen des Erdballs und das, obwohl Auschwitz noch in weiter Ferne lag. Wir waren stolze Juden, viele erwägten die Auswanderung nach Israel, um dem eigenen Staat anzugehören. Aber die Beschäftigung mit der deutschen Literatur und Geschichte, jene Literatur und jene Geschichte, die einst eine liebenswerte Eigenart aufzeigte, sie wurde in unserer Schule betrieben, stärker und ehrlicher als in irgend einer der siebzehn Schulen, die mit Meisterhand im hier besprochenen Band beschrieben wurden.
Die für deutsche Pflichtfächer vorgeschriebene Schulzeit durfte nicht gekürzt werden
Die Schule war seit 1932 eine Oberrealschule und hatte somit das Recht, ihren Schülern die Hochschulreife zukommen zu lassen. Zu meiner Zeit wurde das Hamburger Schulwesen noch von Oberschulrat Dr. Wilhelm Oberdörffer beaufsichtigt, der bis zu seiner Pensionierung eine schützende Hand über die Schule hielt. Aber eines konnte und wollte auch Oberdörffer nicht: Da die jüdische Schule am Sabbat geschlossen war und dazu noch viel Zeit auf jüdisches Wissen verwendete, musste auch Sonntags unterrichtet werden; die für deutsche Pflichtfächer vorgeschriebene Schulzeit durfte nicht gekürzt werden.
Nun waren die Zeiten nicht dazu angetan am heiligen Sonntag Judenjungen zur Schule strömen zu lassen, auf dass sie lernten einem anständigen Deutschen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Auch war Sonntag der Tag, an dem die Freizeit anderer Schüler auf völkische Art genutzt wurde. So waren wir angehalten Sonntags ohne Schulmütze und Schulmappe zur Schule zu gehen. Ein „Sonntagsheft“ wurde eingerichtet, das man verborgen mitnahm; und später wurden dann die Aufzeichnungen in die regulären Hefte umgetragen.
Durch die feindlichen Straßen nach Hause
So war schon der Schulweg, besonders am Sonntag, dazu angetan uns nicht vergessen zu lassen, dass wir „anders“ waren. Ich habe diesen Weg in meiner intimen Privatsprache „den Weg durch die Kälte“ genannt. Dieser Begriff umfasst allerdings nicht nur den Sonntagsschulweg. Die Einwohner der Stadt Hamburg waren nicht besonders religiös; das protestantische Hamburg war nicht Köln. Aber zur Adventszeit, wenn es kalt geworden war, merkte ein für religiöse Fragen aufgeschlossener Jude wohl, dass die Adventskerzen hinter den Fensterscheiben nicht nur Ausdruck einer anderen Religion, sondern ein Zeichen dafür waren, dass man durch feindliches Gebiet schritt. Nicht zu reden davon, wenn Marschlieder singende Truppen sich nähernten. An Sonntagen und am Freitagabend, wenn man nach dem Sabbat-Gottesdienst im Tempel von Freude und Licht erfüllt war, empfand ich es als besonders gefährlich durch die feindlichen Straßen nach Hause zu gehen.
Aber einmal in der Schule angekommen, welch Unterschied zur Lichtwarkschule! Ja, welch ein Unterschied zu allen von siebzehn Schriftstellern beschriebenen deutschen Lehranstalten.
Die staatlichen Subventionen für die Talmud Tora Schule wurden 1933 gestrichen
In den ersten Tagen erschien mir das Schulgebäude – es steht heute noch – verglichen mit der hypermodernen Lichtwarkschule etwas dunkel. Auch saßen wir nicht auf bequemen Stühlen, sondern auf klassischen Schulbänken. Doch schon der Direktor der Schule, er beeindruckte mich sofort tief: Über Herrn Dr. Arthur Spier sind Bände geschrieben worden. Er war zur Zeit meines Eintritts in die Schule 37 Jahre alt, doch wirkte er bedeutend jünger. Im ersten Weltkrieg war er Flieger gewesen. 1926 hatte er das Direktorat der Talmud Tora Schule übernommen; nach 6 Jahren hatte er es erreicht, dass man in seiner Schule das Abitur ablegen konnte. Die staatlichen Subventionen für die Talmud Tora Schule wurden 1933 gestrichen, Direktor Spier brachte es fertig, in einer persönlichen Unterredung mit dem Reichsstatthalter, sie zurückzuerlangen.
Unsere Lehrer haben wir kräftig gehänselt, wahrscheinlich hauptsächlich, weil hier der einzige Ort war, wo wir noch hänseln konnten. Aber wenn Direktor Spier eintrat, wurde es mucksmäuschenstill. Er hatte dann die Gewohnheit, sich mit der Hand an den Hinterkopf zu greifen, um das Käppchen des orthodoxen Juden zurechtzurücken und dann ging es los. Leider habe ich ihn nie als Lehrer gehabt, außer wenn er andere Lehrer krankheitshalber vertrat: Es gab kein Fach, das er nicht nach kurzem Zurechtrücken des Käppchens, perfekt lehrte.
Als ich in die Schule eintrat, war ein schweres Problem zu lösen: Die Talmud Tora Schule war immer eine Anstalt mit sehr hohem Niveau an jüdischem Wissen gewesen; nun aber strömten auf einmal notgedrungen Schüler in diese Anstalt, die keine Ahnung von Judentum hatten. Solche Probleme löste Spier mit der linken Hand. Drei Unterrichtszüge wurden geschaffen, Unterstufe, Mittelstufe, Oberstufe; jeder wurde wiederum eingeteilt in vier Kategorien, A, B, C und D. Ich begann in der Mittelstufe, ein kurzes Examen zeigte, dass mein Wissen gerade noch für C reichte; und so durchlief ich den jüdischen Lehrgang von der Mittelstufe bis zum Beginn der Oberstufe auf Gleis C. Ich erzähle das nicht nur, um das Organisationstalent des bewunderten Direktors aufzuweisen; vor allem möchte ich zeigen, was in dieser Schule „C“, also der vorletzte Standard, bedeutete.
Wenn auch der Leser mit jüdischem Wissen nicht vertraut ist, die Bibel, besonders den Anfang, dürfte er schon einmal gelesen haben. Er lese nochmals die ersten 5 Kapitel, und dann beantworte er folgenden Fragebogen, den ich zufälligerweise noch unter meinen Erinnerungspapieren aus der Schulzeit besitze:
1. Was war die Nahrung des ersten Menschen?
2. Welche Pflichten wurden ihm auferlegt?
3. Mit welchen Worten wird die Schabbat-Bedeutung in der Tora zuerst eingeleitet?
4. Was heisst Gan Eden auf deutsch?
5. Wie hießen die 4 Flüsse, die vom Paradiesfluss abzweigten?
6. Welche Aufgaben erhielt der erste Mensch zugeteilt?
7. Was wurde Adam verboten?
8. Wie nennt man mit hebräischem Ausdruck die Art der Verpflichtung, welche Adam auferlegt wurde?
9. Wie schildert die Tora die Schöpfung der Frau?
10. Welche Rolle spielt die Schlange bei der Sünde des ersten Menschen?
11. Worin bestand die Lüge Evas in der Unterhaltung mit der Schlange?
12. Welche Kleidung verfertigten sich die ersten Menschen?
13. Welche Kleidung gab Gott Adam und Eva?
14. Welche Strafe traf a) die Schlange, b) die Frau, c) den Mann?
15. Was bedeutet der Name Eva?
16. Wie wurde der Eingang zum Paradies bewacht?
17. Wie hießen die ersten beiden Söhne des ersten Menschenpaares?
18. Welche Beschäftigung hatten Kain und Abel?
19. Zu welcher Opferart gehört das erste von Menschen dargebrachte Opfer?
20. Welche Strafe trifft Kain für den Mord an Abel?
21. Welche Bedeutung hat das „Kainszeichen“?
22. Von wem wurde Kain getötet?
23. Wer war Schet und was bedeutet sein Name?
24. Wie hieß der älteste Mensch? Wie alt wurde er?
25. Was bedeutet der Name Noa (Noach)?
26. Wie alt war Noa, als ihm seine Söhne geboren wurden?(Aus „Fragenheft zur Bibel“, zusammengestellt von meinem Lehrer B. S. Jacobson).
Ich will gerne zugeben, dass ich heute keine dieser Fragen mehr beantworten kann. Überhaupt bin ich jedesmal tief erschrocken, wenn ich das Verhältnis Lehrstoff/Wissen meines Lebens betrachte, ein Faktor, der sich asymptotisch dem Unendlichen nähert. Aber wenn ich mich heute, trotz meines Unwissens, mit allem jüdischen unsagbar vertraut fühle, so habe ich es meinen Lehrern im Tempel und der Talmud Tora Schule zu verdanken. Denn auch Gefühle benötigen eine Grundlage des Wissens. Wer wusste das besser als diejenigen, die das Lehrprogramm für deutsche Schulen jener Zeit zusammenstellten?
Muttersprache, in der aber bereits unser Tod in den verschiedensten Melodien besungen wurde
Aber genau so, wie wir die Bibel und die hebräische Sprache lernten, so lernten wir Deutsch, und es scheint mir heute unglaublich, mit welcher Begeisterung unsere jüdischen Lehrer eine Sprache vermittelten, die zwar fraglos ihre und unsere Muttersprache war, in der aber bereits unser Tod in den verschiedensten Melodien besungen wurde. Ich will gerne gestehen, dass ich mich mit Walter Jens bestimmt nicht vergleichen kann, der sich an seine Lehrerin Hildegard Hefke erinnernd, sagt, dass sie bereits in Klasse 2 den Komparativ übte. Ich weiß heute kaum mehr was der Komparativ ist. Aber ich entsinne mich wohl, dass selbst wenn wir Übersetzungen lasen und in welcher jüdischen Schule jener Zeit hätte man nicht den Kaufmann von Venedig gelesen, wir noch eifrig diskutierten, ob nun die Übersetzung von Schlegel oder diejenige von Gundolf „deutscher“ sei. Und bedarf es noch eines Beweises, dass wir die deutsche Sprache mit Liebe beigebracht bekamen, als den, dass ich es heute noch wage diesen Aufsatz zu schreiben, als Nachwort zu Kurznovellen siebzehn deutscher Meistererzähler? Denn so, wie ich mit der Bibel auf Du und Du stehe, ohne sie wirklich zu kennen, so liebe ich die deutsche Sprache, trotz der vielen Jahre die ich nun auf „Spanisch“ lebe.
Unser Klassenlehrer, Eugen Michaelis (Deutsch und Geschichte), war wie Direktor Spier ein noch sehr junger Mann aber ganz anderer Natur.
In meine Schulzeit fielen die Jahre, während derer er sich verliebte und heiratete und so sah er alles, selbst in dieser Zeit, mit einer romantischen Brille. Allerdings, er konnte wütend werden und als wir einmal zu frech wurden, schmiss er mit einem Channukah – Leuchter (einem achtarmigen Leuchter, der beim jüdischen Lichterfest Channukah verwendet wird) nach dem Übeltäter. Andere Lehrer hatten es schwer mit uns, denn wir waren immer bereit sie zu ärgern, soweit es nur anging. Unser Mathematiklehrer, Herr Dr. Weinberger, war gehbehindert und sehr nervös. Wurde er wütend, so wirbelte er mit seinem Stock in der Luft herum und rief ganz ausser sich „Ich schmeiß euch noch zum Fenster raus“, worauf sogleich ein Schüler in gespieltem Entsetzen brüllte „Fenster zu!“. Erst heute weiß ich, dass diese Lehrer Helden waren. Sie wussten, dass die Schule uns Gelegenheit geben musste zum Austoben und sie schirmten uns ab gegen die Welt von draussen.
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