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AUFBAU IM UNTERGANG – Teil XII

Februar 17, 2020

Detlef Aberle
AUFBAU IM UNTERGANG

12. KAPITEL

Noch öfters hatte ich Gelegenheit zu einem Stage und bei der gemeinsamen Arbeit in Basel lernten Dieter und ich uns kennen. Natürlich wussten jeder „woher der andere kam“, aber wir schätzten uns gegenseitig und über die Vergangenheit sprach man nicht.

So, zum Beispiel, dreizehn Jahre nach der oben beschriebenen Reise war ich wieder einmal in Basel, und nach Beendigung der Arbeit wollte ich meinen Europa-Aufenthalt ausnutzen, um Holland und Dänemark besuchen. Vor dieser Reise verbrachte ich einen letzten Abend im Hause Dieters, der mich zu einem Abschieds-Abendessen eingeladen hatte. Man sprach über alles, zum Beispiel über das Schulwesen in Deutschland, aber das „heikle Thema“ wurde nicht berührt.

Ich beschreibe nun die letzte Reise vor der großen Aussprache, die eigentlich der Kern dieser Erzählung ist.

Amsterdam kannte ich noch nicht; Dänemark hatte ich mit meiner Schwester und Iteb besucht, als meine Eltern gerade wieder einmal auf einer Erkundigungsreise für die Auswanderung waren.
So kaufte ich also die Fahrkarte am Bahnhof SBB und bestieg am nächsten Morgen den Zug am badischen Bahnhof.
Meine Ferien in Amsterdam sind hier ohne Interesse.
Ich muss gestehen: Obwohl ich durch die Beaufsichtigung Itebs ein recht guter Schüler geworden war, in Geographie sind meine Kenntnisse immer mehr als ärmlich gewesen. Als ich von Amsterdam nach Kopenhagen fuhr hatte ich keine Ahnung, dass dieser Weg über Hamburg führt. Auf einmal waren mir die Bahnhofs­namen verdächtig bekannt, doch war ich höchst erstaunt als das Schild „Hamburg Hbf.“ immer langsamer an meinem Fenster vorbeifuhr, und schliesslich mit leichtem Wackeln stehen blieb.
Da nahm ich meinen Koffer und stieg aus.

Hauptbahnhof in den 1970er Jahren/ Foto: Ullrich Wienke, Bundesarchiv

Hamburger Hauptbahnhof in den 1970er Jahren/ Foto: Ullrich Wienke, Bundesarchiv

Um ein preiswertes Hotel zu finden, zog ich das Buch „Europe, 5 Dollars a day“ zu Rate. Allerdings, so hieß die erste Ausgabe. Die ständige Dollarentwertung hat dazu geführt, dass zu der hier besprochenen Zeit der Titel bereits „Europe, 15 Dollars a day“ lautete, und heute dürften es leicht ihrer 50 sein.
Dieses Werk hat zwei Vorteile: Erstens führt es den von außerhalb Europa kommenden in billige, aber absolut erträg­liche Hotels, und dies mit einer erstaunlichen Genauigkeit. Der zweite Vorteil jedoch ist, dass auch die kulturellen und Vergnügungs­möglich­keiten erklärt werden, die für die Börse eines normalen Sterb­lichen erschwinglich sind.
Diese ausführliche Propaganda wird hier eingeschaltet, weil ich in Hamburg ein besonders gutes Logis angewiesen bekam, was der Leser am Ende des nächsten Kapitels bemerken wird. Am Anfang, allerdings, schien es nicht so. Ich fuhr im Taxi zur Rothenbaumchaussee und fand ein sehr geräumiges Zimmer vor, mit allem was dazu gehört, sogar eine reich­liche Anzahl Bügel.

Natürlich war das Zimmer ohne Bad. Ohne irgend jemandem zu nahe treten zu wollen, damals benötigte man in Europa kein Zimmer mit Privatbad. Das gemeinsame Badezimmer war nie besetzt. Es war ja kalt hier, man musste sich nicht andauernd duschen wie im Land des blauen Himmels. Und dazu kam, dass diese Pension etwas Besonderes erfunden hatte. In der Mitte meines Zimmers, nämlich, befand sich eine Kabine. Beim Eintritt drückte man auf einen Knopf, setzte eine Pumpe in Bewegung, und schon konnte man sich mit wohl temperiertem Wasser einseifen. So tat ich es, doch kaum war ich eingeseift, als das Ungetüm nicht mehr funktionierte, wahrscheinlich war es zum ersten Mal benutzt worden. In Hamburg nannten wir das während meiner Jugend „eingeseift und nicht rasiert“. So blieb mir nichts anderes üblich, als mir den Schaum vom Körper zu schaben.

Offensichtlich war die Stadt gerade dabei, die Vergangenheit zu bewältigen

Nachdem diese nicht sehr ermutigende Toilette beendet war, kaufte ich mir eine Zeitung um mal zu sehen, was Hamburg kulturell zu bieten hatte. Offensichtlich war die Stadt gerade dabei, die Vergangenheit zu bewältigen. Der erst­klassige, damals neue Film „Mephisto“, nach dem Buch von Klaus Mann, war gerade angelaufen. Im Stadttheater wurde Lessings „Nathan der Weise“ gegeben, und nach Ankündigung der Zeitung konnte man während der Pause im Foyer eine Ausstellung von Bildern jüdischer Friedhöfe sehen. Ein anderes Theater gab „Das Tagebuch der Anne Frank“.
Ich sah alle drei Aufführungen, und noch viel mehr. Hier soll nur die Aufführung des „Tagebuchs“ beschrieben werden.

Obwohl das Theater ausverkauft war und ich im letzten Moment erschien, bekam ich noch einen guten Platz in der dritten Reihe. Schon vor Beginn der Aufführung musste ich mich wundern. Neben mir sass ein wunderschönes Mädchen, dessen Alter ich auf sieb­zehn Jahre schätzte. Ich sah mich um, einige ältere Damen, etwas weiter hinten, schienen Lehrerinnen zu sein. Offensichtlich war ich in eine Schulaufführung geraten.
Das Licht ging aus, der Vorhang hob sich. Ich kannte nicht nur das Buch gut, auch die Aufführung hatte ich vor vielen Jahren in der „Freien Deutschen Bühne“ in Buenos Aires gesehen, und sie ist mir unvergesslich geblieben. Immer erinnere ich mich gerne an jenes Theater, gegründet von aus Deutschland vertriebenen Künstlern, das während vieler Jahre der Emigration in Buenos Aires beste deutsche Bühnenkunst vermittelte. Der Leiter dieser Bühne, Paul Walter Jacob, wurde später erfolgreicher Intendant in Düsseldorf.

Was er und seine Mitarbeiter in Buenos Aires leisteten gab es weder vor- noch hinterher. Keiner der Schau­spieler konnte allein von seiner künstlerischen Arbeit leben; sie mussten alle einem anderen Broterwerb nachgehen, und erst spät nach­mittags begannen sie zu lernen und zu proben. Auf diese Weise wurde jede Woche ein neues Stück herausgebracht, und es wurde gutes Theater gespielt. Viele dieser Schauspieler hatten dann später einen großen Einfluss auf das argentinische Theater. Dort sah ich also zum ersten Mal „Das Tagebuch der Anne Frank“.

Während der weiteren Unterhaltung konnte ich mich nur wundern

Nun saß ich, so schien mir, in einer Vorstellung für Hamburger Schüler, neben mir ein etwa 17-jähriges Schulmädchen der neuen Zeit.
Während der Pause blieben alle Zuschauer auf ihren Plätzen sitzen und erwarteten den nächsten Akt. So wurde der Eindruck einer Schüler­aufführung noch verstärkt. Das gab mir Gelegenheit, mich mit meiner Nachbarin zu unterhalten. Nein, es sei keine besonders für Schulen gedachte Aufführung, aber da das „Tagebuch“ Pflichtlektüre in jeder deutschen Schule sei, wolle es natürlich jeder Schüler gerne sehen. Während der weiteren Unterhaltung konnte ich mich nur wundern. Wäre das Kind siebenundzwanzig statt siebzehn Jahre alt gewesen, sie hätte ihre Zeit keineswegs verloren. Sie plauderte über Theater, was sie so gesehen und gelesen habe, gab ihre Meinung über Schrift­steller, Schauspieler, Regisseure und was weiß Gott noch alles kund. Und dabei klang das alles überhaupt nicht altklug, ganz im Gegenteil, es wurde auf eine sehr lebendige aber fast noch kindliche Art vorgetragen.
Ich hörte mir das so etwa zehn Minuten lang an, und am Anfang war ich begeistert. Aber dann wurde ich zuerst verstimmt und dann verärgert. In mir begann etwas vorzugehen, das meiner Reaktion während der Aufführung von Anatevka, mit dem jungen, netten Hamburger neben mir, ähnlich war.

Seitdem jedoch betrachte ich „Das Tagebuch der Anne Frank“ als etwas Persön­liches

Durch Zufall hatte ich Otto Frank, den Vater Annes, persönlich kennen gelernt. Vor meinem ersten Stage in Basel bat mich eine Bekannte in Buenos Aires einer sehr guten Schulfreundin, der zweiten Frau von Otto Frank, ein kleines Geschenk nach Basel mitzunehmen. Sie erklärte mir, dass Otto Frank sich wieder verheiratet habe, und, um nicht belästigt zu werden, unter dem Namen seiner Frau im Basler Telefonverzeichnis stehe. Ich sollte also diesen Namen suchen, anrufen, schöne Grüße aus­richten und die kleine Aufmerksamkeit über­reichen. So betrat ich denn eines Spätnachmittags das Haus der Familie Frank, überreichte der Schulfreundin das kleine Paket, und kaum hatte ich mich gesetzt betrat Otto Frank das Zimmer und stellte sich vor. Eine Einladung zum kalten Abendbrot schlug ich vorsichts­halber aus. Aber es war mir klar, dass ich zehn bis fünfzehn Minuten Konversation treiben musste, und nie ist mir eine Unterhaltung so schwer gefallen. Denn man merkte es sofort, Otto Frank wusste dass jeder Konversationspartner ihn zuerst als Vater von Anne Frank sah, und wenn ich mir auch gut vor­stellen kann, dass im näheren Bekanntenkreis ein nor­males Gespräch für ihn möglich war, so empfand ich, wie schwer ihm eine flüssige Konversation mit Fremden fiel. Glücklicher­weise gibt es in Basel einige Standard Themata, die andauernd angeschnitten werden. Der Basler ist überzeugt davon, dass die Sahara sich durch ein glänzendes Klima auszeichnet, nicht zu vergleichen mit dem schrecklichen „Föhn“, von dem die Basler heimgesucht werden. Dass die Straßen in Basel vereist sind, sodass Gehen gefährlich, die Skisaison jedoch durch zu niedrigen Schnee gefährdet ist, wurde ebenfalls bemerkt. Und wenn einer das Glück hat, wie es der Fall war, zur Fassnachts­zeit in Basel zu weilen, fehlt sowieso kein Gesprächsthema. So konnte ich die fünfzehn Minuten mehr oder weniger gut bestehen, und verabschiedete mich. Seitdem jedoch betrachte ich „Das Tagebuch der Anne Frank“ als etwas Persön­liches. Und dieses süße, nicht nur stups-, sondern wie mir nun schien wohl auch ein wenig hochnäsiges Kind, hatte es nicht eben von Wilhelm Tell gesprochen? Waren wir nun schon beim Apfel­schießen angelangt? Unwille stieg in mir hoch, und ich fragte sie erbost: Sagen Sie, haben sie überhaupt schon mal einen Juden gesehen? Die Antwort ließ nicht auf sich warten: „Nein, aber ich nehme an, die sind so wie andere Menschen“.

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