Januar 25, 2020
Detlef Aberle
AUFBAU IM UNTERGANG
7. KAPITEL
Wie schnell vergass man im Land des blauen Himmels jene Grundmelodie der Schulzeit, das Aufbau-im-Untergang-Gefühl. Hier gab es keinen Weg durch die Kälte. Des Morgens hupte lustig ein rot angemalter Omnibus, den man mit weißem Kittel bekleidet, bestieg. Und es war schade, dass die besorgten Eltern wegen des etwas weiten Schulwegs den Schulomnibus bevorzugten, denn auf der Straße war es warm, an fast jeder Ecke saßen fröhliche Menschen, tranken Kaffee oder aßen Speiseeis, man hatte das Gefühl, als seien ewige Ferien ausgebrochen.
Nicht, dass wir uns schnell assimiliert hätten. Dazu störte nicht nur die fremde Sprache, sondern die so ganz andere Lebensauffassung der Himmelblauen. Wir waren gewohnt, das Leben in unseren vier Wänden zu vollziehen. Auf der Strasse war es ja in doppeltem Sinne kalt. Hier dagegen, wurden selbst die Geschäfte im Kaffeehaus getätigt und man konnte gewärtig sein, dass ein erst seit Minuten bekannter Mensch ernsthaft behauptete ein Freund zu sein und sein Lachen nur schwer verbergen konnte, wenn man sich steif, mit festem Händedruck, vielleicht noch mit leichtem Andeuten eines Hackenzusammenschlagens, verabschiedete.
Wir Emigranten hockten noch für lange Zeit dicht aufeinander
Wir Emigranten hockten noch für lange Zeit dicht aufeinander und am Samstag Nachmittag spielte sich das Gesellschaftsleben schön brav zuhause ab. Mir ist von jener Zeit eine Begebenheit in Erinnerung geblieben, die den Schock aufzeigt, mit dem wir lebten.
Eines Samstag Nachmittag waren Freunde bei uns zu Kaffee und Kuchen eingeladen und zwar um fünf. Fünf hieß bei uns fünf und nicht sieben, wie hierzulande üblich. Meine Eltern waren deshalb zuerst etwas besorgt, dann erbost, als Frau X um halb sieben völlig außer Atem, in größter Aufregung erschien. Also, sie hatte am Bahnhof, dem Hauptbahnhof, da wo die große Uhr steht, den Zug nehmen wollen. Dazu hatte sie den großen Platz überqueren müssen, sich aber nicht vorstellen können, dass es so schwer sei die Straße zu überqueren bei diesem rasenden Verkehr. Plötzlich stand sie in der Mitte der breiten Straße, Autos kamen von allen Seiten, und das schlimmste: ein schriller und langer Pfiff ertönte, kein Zweifel, die Polizei. Natürlich, sie war falsch über die Straße gegangen, und jetzt, davon war sie überzeugt, wurde sie verhaftet. Als sie ängstlich den Kopf hob, glaubte sie ihren Augen nicht: Alle Autos standen, einige der Wageninsassen lachten, am meisten aber lachte der Polizist. Mit der linken Hand hielt er sich den Bauch, mit der rechten winkte er ihr freundlich zu, sie solle doch nun schon endlich mal weitergehen. Es war unglaublich, man höre und staune, man hatte für sie, die Jüdin, den ganzen Verkehr am Hauptbahnhof angehalten und wartete darauf, dass sie die Straße überquert.
Wir hörten und staunten. Und ich entsinne mich, dass wir damals überzeugt davon waren, im Paradies gelandet zu sein. Kleinigkeiten wie Bananen bekam man am Markt als Beigabe geschenkt. Aber hauptsächlich, man konnte sich keinen größeren Unterschied vorstellen zu den Menschen von „drüben“. Hier war es warm.
Und es kamen dann schöne Jahre im neuen himmelblauen Land. Ich besuchte die höhere Schule, studierte Chemie, arbeitete, heiratete, bekam Kinder. Aber die verdrängte Schulzeit rächte sich und holte mich wieder ein: Dreißig Jahre später.
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