Oktober 6, 2019
Am Tag unserer Ankunft sind wir spontan ins Museo de los Inmigrantes an den Hafen gefahren. Dieses Auffanglager war so etwas wie Ellis Island in New York. Hier wurden alle Immigrant*innen registriert und viele blieben auch ein paar Tage dort.
Wir wollten uns den Ort erst einmal ansehen, um zu sehen, ob wir dort drehen können. Wir beschlossen, dass wir dort mit Rut Marx und Edith Braun am Samstag hinfahren. Nur musste erst einmal eine Drehgenehmigung beschafft werden.
Am nächsten Tag, dem 11. September, sind wir bei Vesna Frank in Vicente Lopez, einem Vorort direkt an der Grenze zu Capital Federal.
Es ist schön, sie wiederzusehen, ihr zu lauschen, sie zu beobachten. Sie hat sehr viel zu erzählen. Leider werde ich nicht alles verwenden können. In so ein langes Leben passt deutlich mehr als in eine Dokumentation.
Fast jeden Tag sind wir in unserer Cantina, der „tea connection“. Ganz Argentinien-untypisch essen wir dort vegetarisch oder vegan und trinken frische Säfte oder Tee. Wunderbar!!!
Donnerstag, 12. September: Wir sind bei Rut Marx zu Gast.
In einer aufgeräumten Wohnung, wo jeder Kristallaschenbecher, jedes Kännchen, jedes Erinnerungsstück aus Deutschland seinen festen Platz hat. Rut ist eine sehr energische Frau. Sie hat immer noch Bronk im Bauch, Ärger, gegen die Nazis und alle, die es nicht begreifen wollen. Ihre Schwägerin Edith Braun kommt etwas später dazu. Auch ihr Leben hat der Nationalsozialismus grundlegend verändert. Aber beide sind versöhnt. Wir haben ihnen sehr gerne zugehört.
Am Abend präsentiere ich mein Buch im Gemeindezentrum Amijai.
Es viele Menschen da. 80 bestimmt. Besonders hat mich gefreut, dass einige Angehörige meiner Protagonist*innen da waren und ein paar Protagonist*innen selbst.
Und wen sehe ich da plötzlich sitzen? Ein mir bekanntes Gesicht: Helga Magulies. Eine Protagonistin aus meinem Buch. Was für eine Freude, denn ich ahnte nicht, dass sie noch lebt. Also kläre ich gleich, ob es möglich ist am Wochenende bei ihr vorbei zu kommen. Es gibt ein kleines Zeitfenster, das wir noch nicht verplant haben…. Am Sonntag Vormittag.
Freitag, der 13., HIER zum Glück kein Unglückstag. Wir sind bei Smilgs.
Sie haben Familie aus Israel da, weil Ilse Smilg am Montag ihren 90. Geburtstag gefeiert hat. Trotzdem dürfen wir kommen und sie ausführlich befragen. Zu ihrer Kindheit in Berlin und zu ihrem Start in Buenos Aires. Beide waren kleine Kinder damals und ihre Eltern immer darauf bedacht, all das Schlimme von ihnen fernzuhalten.
Samstag, 14. September. Vor allem Saskia hat es mit einigen Mails hin und her geschafft, eine Drehgenehmigung fürs Museum zu bekommen. Ein wunderbarer Ort.
Rut erinnert sich an die großen Speise- und Schlafsäle und Edith erzählt von ihrer Cousine die, 15jährig als einzige dort zurückbleiben musste, weil der Onkel nicht am Schiff war, um sie abzuholen. Damals grassierte die Angst vor Mädchenhändlern und es musste bei Minderjährigen immer ein direkter Verwandter kommen, um das Kind entgegenzunehmen. Eigentlich wollen wir auch ans Wasser, aber wir finden keinen direkten Zugang. So dreht Berit das Wasser erst mal nur durchs Fenster.
Sonntag sind wir dann am Vormittag bei Helga. Es wird ein sehr intensives Gespräch. Sie beeindruckt uns mit ihrem präzisen Gedächtnis und erzählt von alltäglichem Antisemitismus. Sie sagt, dass sei so normal gewesen. Sie habe sich im Laufe ihres Lebens dran gewöhnt. Schlimm.
Als sie davon erzählt, dass ihre Oma, die sie großgezogen hat, mit einem Teil der Familie nach Israel auswandert und sie sie danach nie wiedersehen wird, müssen wir alle weinen. Das was schmerzt, sei vor allem, dass ihre Familie in alle Himmelsrichtungen zerstreut wurde. Manche sind im Konzentrationslager umgekommen. Viele hat sie nie wiedergesehen.
Nach einer Pause fahren wir raus nach Castelar Norte in der Provinz. Hier wohnt Marion Serra. Wir sind mit ihr und ihrer geliebten Enkeltochter Rocío verabredet.
Sie schauen sich gemeinsam alte Fotos an. Die eine spricht über ihre Erinnerungen, die andere darüber, wie sehr sie die Geschichten ihrer Oma liebt.
Gleich am nächsten Tag sehen wir Marion wieder im Hirsch in San Miguel. Hier arbeitet sie seit einer halben Ewigkeit, seit mehr als 30 Jahren, als Voluntaria.
Wir begleiten sie, wenn sie Bewohnerinnen besucht und treffen dabei Edith Sichel wieder, die ich schon von 2004 kenne. Wir sind dabei, wenn sie im Heim Yogaunterricht gibt.
Wir sind gerührt und beeindruckt von Marions ruhigen Art. Sie wird geliebt dafür.
Am nächsten Tag sind wir wieder im Hirsch, heute leider - anders als geplant, ohne Marion. Sie muss mit ihrem Mann zum Arzt. Dafür sind wir mit Ilse Smilg unterwegs und treffen mit ihr zusammen einen alten Freund: Detlef Aberle.
Der gebürtige Hamburger ist 97 Jahre alt und so unglaublich fit und wach! Wir sind sehr beeindruckt.
Dann kommen alle noch mal zusammen: Helga, Rut, Edith, Vesna, Ilse - die ehemaligen Volontarias und die, die immer noch kommen. Zum Kaffee trinken, Kekse essen, quatschen. Und wir mit der Kamera dabei.
Nach diesen sieben intensiven Tagen sind wir total geschafft und froh, dass nur noch die Buenos Aires-Bilder anstehen.
So fahren wir noch ein letztes Mal durch die Stadt und suchen nach typischen Szenen: Hundesitter im Park, volle Straßen, der Hafen.
Am letzten Tag stehen wir früh auf. Wir wollen die Porteros drehen, wie sie morgens die Gehwege reinigen. Mit Wasser, obwohl das eigentlich verboten ist. Wegen der Wasserknappheit. Auch typisch für Buenos Aires.
Friederike Pfromm - November 13, 2019 at 6:48 pm -
Liebe Corinna
Sehr toll und rührend. Schön das diese ganz besondere Geschichte von der deutsch jüdischen Gesellschaft in Buenos Aires noch erzählt wird.
Vielen Dank
Friederike