Edith Braun hat nur wenig Erinnerungen an die Zeit vor ihrer Auswanderung. „Leider und Gottseidank“, sagt sie heute. Leider, weil sie die ganze Geschichte wahrscheinlich besser verstehen könnte und Gott sei Dank, weil sie sich eigentlich gar nicht erinnern möchte. Sie sagt, es ist, als seien die Erinnerungen weggeschwommen. Sie ist sich sicher, dass das psychische Ursachen hat.
Nur vereinzelte, traurige Erinnerungen sind ihr geblieben. So zum Beispiel, dass ihre beste Freundin eines Tages nicht mehr mit ihr spielen durfte. Oder, dass sie und ihr zwei Jahre älterer Bruder Hans in der Schule und auf dem Sportplatz sehr „belästigt“ wurden, wie sie es nennt. Was sich hinter diesem Wort verbirgt? Sie kann und will nicht ins Detail gehen. Es muss aber schlimm und andauernd gewesen sein, denn die Eltern beschließen vor allem deswegen auszuwandern.
„Bitte, bitte, holt uns raus!“
Edith Rosa Ruth Marx kommt am 18. Februar 1926 in Landau in der Pfalz zur Welt. Als die Nazis an die Macht kommen, ist sie noch zu klein, um alles zu verstehen. Die Familie will raus aus Deutschland. Das bekommt sie mit.
Ein Onkel, der schon seit 1926 in Argentinien lebt, schickt eine llamada. Auch die Großeltern fordert er an, doch sie wollen Deutschland nicht verlassen. „Wer wird uns was tun?“, haben sie damals gefragt, erinnert sich die 79jährige Enkelin. Als die Großeltern später flehende Briefe schicken, „Bitte, bitte, holt uns raus!“, da muss der kleinen Edith der Ernst der Situation klar gewesen sein. Bis dahin war die Auswanderung und vor allem die Schiffsreise mit dem Schiff „Lamadrid“, mit dem sie im Dezember 1935 den Hamburger Hafen verlassen, für sie und ihren Bruder eine aventura, ein Abenteuer, wie sie sagt. Heute weiß sie, dass es für ihre Eltern ein schwerer Abschied war.
Für die damals 15jährige ist das ein harter Schritt
Auch der Start ins neue Leben ist für Familie Marx nicht leicht. Sie wohnen zunächst beim Onkel. Der verdient gut und unterstützt sie. Doch wollen sie nicht auf Dauer abhängig bleiben. Also fängt der Vater an zu arbeiten. Er versucht sich im Handel mit Kohle, Holz und Wein. Als er von seinem Partner betrogen wird, muss er ganz von vorne anfangen. Die Familie zieht in den Süden des Landes. Für Edith und ihren Bruder Hans heißt das, sie müssen ohne die Eltern nach Buenos Aires gehen, denn nur dort können sie was lernen und arbeiten. Für die damals 15jährige ist das ein harter Schritt. Sie geht zwar zusammen mit ihrem Bruder, aber von nun an ist sie ohne ihre geliebten Eltern. Sie erzählt, dass sie bis dahin immer ein sehr wildes und ausgelassenes Kind gewesen sei. Nun verschließt sie sich immer mehr.
„Es war sehr hart, aber wir waren in Freiheit.“
Edith arbeitet im Kinderheim des Jüdischen Hilfsvereins, erst als Gehilfin und später als Kindergärtnerin. „Fünfzehn Jahre damals ist nicht fünfzehn Jahre heute“, sagt sie mit einem sehr ernsten Gesichtsausdruck. Auch für die Eltern sei es schwer gewesen, die Kinder gehen zu lassen. „Es war sehr hart, aber wir waren in Freiheit.“ Dass das wichtiger war als alles andere, ist ihr heute klarer denn je.
Ihre Großeltern haben sie nicht mehr nachholen können. Stattdessen werden sie in ein französisches Lager deportiert. Nur die Großmutter überlebt. Nach dem Krieg geht sie zu einer ihrer Töchter nach Palästina.
Das Leben geht weiter
Das Leben geht weiter, und auch Edith richtet sich ein. Ihre Eltern fehlen ihr, aber sie ist auch froh, dass sie Arbeit hat. Sechs Jahre bleibt sie als Kindergärtnerin dem Hilfsverein treu.
Heute, mehr als ein halbes Jahrhundert später, kümmert sie sich nicht mehr um die Kleinen. Sattdessen verbringt sie als voluntaria jede Woche einen Tag „im besten Altenheim von ganz Buenos Aires“, wie sie sagt. Sie hat viel Freude an ihrer Arbeit. Und hier spricht sie vor allem Deutsch. Ihre Freundinnen sind deutsche Juden, sie heiratete einen deutschen Juden, doch Deutsche ist sie deshalb nicht. „Ich war zwar auch wieder in Deutschland, und ich war begeistert, aber trotzdem. Hier ist mein Leben.“ Sie fühlt sich heute als Argentinierin. Ihr Verhältnis zu Deutschland ist trotzdem sehr gut, sagt sie. Ihre alte Heimatstadt besucht sie drei Mal und lernt sehr nette Menschen kennen, wie sie sagt. Sie trifft sich sogar mit ihren alten Klassenkameradinnen, doch „Ich habe mich an niemanden erinnert. Nur meine damalige beste Freundin habe ich wieder erkannt. Es war sehr aufregend und sehr emotionell“, erinnert sie sich an diese Begegnung.
Lange hat sie verdrängt. Heute freut sie sich über den Kontakt zu Landau, ihrer alten Heimat und vielleicht kommen die Erinnerungen ja wieder. Nach und nach.